Lieben Sie(,) Edvard Beneš!

Der tschechische Exil-Präsident Edvard Beneš ist für viele Menschen deutscher Muttersprache, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihre tschechoslowakische Heimat verlassen mussten, der Inbegriff des Anti-Sudetendeutschen. Beneš der Anti-Held. Teile der von ihm in den Jahren 1945 bis 1946 erlassenen Präsidialdekrete bilden die rechtliche Grundlage für den Abschub der deutschsprachigen Bevölkerungsteile aus der ČSR.

Der tschechische Journalist Petr Zídek befasste sich kürzlich in einem Beitrag in der Tageszeitung Lidové noviny ausführlich mit der Person Edvard Beneš. Das tschechische Parlament stellt auf seinen Internetseiten die am heftigsten diskutierten Dekrete, welche nach einem Urteil des tschechischen Verfassungsgerichts einen Teil des tschechischen Rechtssystems bilden, zur Diskussion online. Der fränkisch-tschechische Politiker von TOP 09, Kar(e)l Schwarzenberg, scheint die Präsidentschaftswahlen wegen seiner Position zu Edvard Beneš gegen Miloš Zeman verloren zu haben. Wer war dieser tschechische Anti-Sudete?

Edvard Beneš war zur Zeit der Zerschlagung der Ersten Tschechoslowakischen Republik Präsident dieses Staats. Er war sicher ein Kind seiner Zeit, die geprägt war vom nationalstaatlichen Denken der Epoche. Es ist an dieser Stelle müßig darüber zu philosophieren, ob es ohne die Schmach von München, dem Münchner Abkommen von 1938, zu einer wie auch immer gearteten Umsiedlung der „deutschsprachigen“ Bevölkerung innerhalb der Tschechoslowakei gekommen wäre oder nicht. Fakt ist: Die Verbrechen und Greueltaten von Nazi-Deutschland, insbesondere von Teilen der Wehrmacht, von Gestapo und der SS, das Massaker von Lidice und die Shoah waren in ihrer Dimension derart unvorstellbar, das sich wohl niemand, der mit diesem Grauen direkt oder indirekt konfrontiert war, diesem entziehen konnte.

Es war wohl das legitime Recht der tschechoslowakischen Exil-Regierung um Edvard Beneš, die masaryk’sche Erste Tschechoslowakische Republik – mit all ihren Stärken und Gründungsfehlern – wieder errichten zu wollen. Vielleicht bedarf es dazu auch entschlossener Schritte wie dem Entlass eines umfangreichen Amnestiegesetzes. Deutschen und Ungarn – darunter fielen auch Menschen aus ethnisch gemischten Familien, welche sich bspw. noch 1929 zu diesen Nationalitäten innerhalb des tschechoslowakischen Staats bekannt, haben – allerdings eine kollektive Beweislastumkehr aufzuerlegen, nämlich beweisen zu müssen, dass sie sich trotz ihrer Nationalität loyal gegenüber dem tschechoslowakischen Staat verhalten haben, scheint in vielen Fällen dieses Bemühen von vornherein ad absurdum zu führen. Dies umso mehr als davon auszugehen ist, dass weite Teile der deutschsprachigen Bevölkerung 1938 und spätestens 1939 mit der Errichtung des Nazi-Protektorats Böhmen und Mähren automatisch die Zugehörigkeit zum Deutschen Reich erhielten: im Gegensatz zu den „nicht-deutschen“ Bevölkerungsteilen der annektierten Landesteile hatten deutschsprachige tschechoslowakische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger kein Optionsrecht, ob sie ihre tschechoslowakische Staatsangehörigkeit wieder erhalten mochten oder nicht. Das Deutsche Reich hatte damit die Fahrkarte für ihre Enteignung und den Abschub in Viehwaggons praktisch spätestens 1939 schon gelöst. Freikaufen von der Aussiedlung in den Westen konnten sich laut Gesetzestext im Wesentlichen lediglich diejenigen, die beweisen konnten, aktive Widerstandskämpfer gewesen zu sein. Missbilligung und passiver Widerstand waren nicht ausreichend.

Das tschechische Verfassungsgericht spricht in seiner Urteilsbegründung von 1995 nicht – wie oftmals Repräsentanten der Sudetendeutschen Landsmannschaft – von der Kollektivschuld der Sudeten- und Karpatendeutschen, sondern vielmehr vom Tragen kollektiver Verantwortung durch die Nation der Deutschen. Das Verantworten-Müssen von Adolf Hitler beinhalte im Fall der Deutsch-Böhmen, Deutsch-Mährer und Karpatendeutschen, Enteignung, Abschub und in logischer Konsequenz auch das Erdulden derjenigen Verbrechen an Deutschen und Ungarn, welche im Rahmen gerechtfertigter Rache begangen worden waren.

Unter den Sudetendeutschen befanden sich zweifelsohne stramme Rechte, die Hitler und seinen Schergen den Weg nach Prag geöffnet haben, viele sind auf Hitlers bösen Zauber, die deutsche Nation einen zu wollen, aufgesessen, und unter dem Eindruck des bevorstehenden Tausendjährigen Reiches mögen Manche aus reinem Opportunismus weder Widerstand geleistet haben noch leisten wollen haben. Mussten viele aktiven Widerstand nicht als aussichtslos betrachten wie bspw. das gescheiterte Attentat von Georg Elser im Jahr 1939 zeigte? War erfolgreiches aktives Widerstehen in Zeiten eines brutalen totalitären Regimes für einfache Bürgerinnen und Bürger nicht von vornherein ein Ding der Unmöglichkeit, wenn selbst das Attentat Stauffenbergs und seine Mitstreiter, also von Menschen, die sich dem Führer und seinen Schergen unauffällig vor 70 Jahren nähern konnten, misslang? Endete das einzig erfolgreiche Attentat auf einen hohen Funktionär des nationalsozialistischen Verbrecherregimes, nämlich das von Jozef  Gabčík und Jan Kubiš auf den NS-Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, Reinhard Heyrdich, in der Katastrophe von Lidice? Beide wurden später gegen einen Judaslohn von einem tschechischen Widerstandskämpfer verraten. Ist es einem Familienvater hinsichtlich der perfiden Perfektion der NS-Totalität ganz zu verdenken, wenn er zunächst an das Wohl seiner Familie dachte statt in den aktiven Widerstand zu wechseln?  Dies bedeutet doch wohl nicht, dass seine Familie und er die deutschen Henker in jedem bis zum Schluss unterstützt und ihr Handeln wohlwollend gebilligt haben. Vielleicht war diese Passivität doch nur ein Anzeichen von Ohnmacht und Un-Mächtigkeit gegenüber einem Regime, das, einmal losgelassen, kaum mehr zu bändigen war.

Es wäre naiv, die Sudeten- und Karpatendeutschen als ein Gruppe wild entschlossener Antifaschisten beschreiben zu wollen, die mit gewetzten Messern nur darauf warteten, dass ein Nazi 1938 seinen Fuß auf tschechoslowakischen Boden setzt, um ihn dann der Kopf abzuschneiden. Genauso einfältig ist es jedoch, sie als 5. Kolonne des Nazi-Unrechtsregimes bezeichnen zu wollen. Beneš und die tschechoslowakische Exilregierung in London sahen zwar in den Dekreten Ausnahmen vor, welche Bürger deutscher und ungarischer Nationalität unter bestimmten Bedingungen vor dem Abschub und der Aussiedlung bewahren sollten und welche die Art und Weise des Odsuns regelten, es bleibt jedoch fraglich, ob die Organe und Personen, die diese dann in die Tat umsetzten, diese auch in der Praxis im Detail anwendeten und ob eine derartige Anwendung unter den Eindrücken der größten Katastrophe der Menschheit, die von reichsdeutschem Boden ausgegangen ist, überhaupt möglich schien beziehungsweise ob es faktisch möglich war, diejenigen Bevölkerungsteile der tschechoslowakischen Bevölkerung, die ausgesiedelt werden sollten, vor teilweise auch gewaltsamen Übergriffen zu schützen.

In jedem Fall scheint es unverhältnismäßig, dass Teile des tschechoslowakischen Staatsvolkes – betrachtet man das Münchner Abkommen von 1938 von Anfang an als nichtig, so wird in der wissenschaftlichen Diskussion unter anderem argumentiert, dass die Sudetendeutschen niemals die reichsdeutsche Staatsbürgerschaft besessen hatten – aufgrund ihrer Nationalität, kollektiv Verantwortung für das Nazi-Unrechtsregimes übernehmen zu müssen, indem sie Haus, Hof und Heimat verloren haben. Dass es bei der Aussiedlung der deutschsprachigen Böhmen und Mährer auch zu gewaltsamen Übergriffen gekommen ist, scheint das erst im Jahr 1946 von Beneš erlassene Amnestiedekret möglicherweise zu zeigen. Es stellt Gewalttaten, welche im Zusammenhang mit der Wiederherstellung der Freiheit der Tschechen und Slowaken standen, straffrei. Dies lässt Interpretationsspielräume in alle Richtungen zu.

Viele Sudetendeutsche haben nach dem Fall des Kommunismus geholfen, die Kirchen in der Dörfern und Städten ihrer Heimat mit aufzubauen. Die Mitglieder der Ackermanngemeinde waren zentrale Anlaufpunkte für Tschechen und Slowaken, die vor der kommunistischen Diktatur in den Westen geflohen sind. Auf den Messen und Gottesdiensten der Sudetendeutschen Tage wird Versöhnung gepredigt, tschechische Bischöfe und Geistliche sind herzlich willkommene Zelebranten. Eine zentrale Botschaft der christlichen Verkündigung ist die Nächsten- und Feindesliebe. So bleibt den Sudeten- und Karpatendeutschen an dieser Stelle zuzurufen: „Versuchen Sie, Edvard Beneš zu lieben!” Es wird ihnen vielleicht das Herz brechen und sie vielleicht gar zur Selbstaufgabe zwingen. Vielleicht können sie aber dann verstehen, worum es dem großen sudetendeutschen Antipoden ging: Die Wiederherstellung des Staates dessen Staatsvolk sie waren und  dessen Präsident er bis zur Zerschlagung der Tschechoslowakei durch die Nazis war und im Exil geblieben ist. Vielleicht hat er dabei geirrt und auch gefehlt – und man hätte ihm gleichermaßen zurufen müssen: “Milujte, Edvard Beneš! – Lieben Sie, Edvard Beneš!”.

„Lieben Sie Edvard Beneš ! – Milujte Edvarda Beneša!“ – Es muss ja nicht gleich die Beneš-Büste in der guten Stube sein.

Lieben Sie(,) Edvard Beneš!

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